DIE SAGE VOM UNSICHTBAREN CORONAWESEN
Es gab einmal eine Zeit, da die Menschen wie verrückt auf der Erde herumwuselten. Arbeiten um zu reisen. Reisen um zu entspannen. Entspannen um dann noch mehr zu arbeiten. Doch irgendwie funktionierte das nicht. Die Reichen wurden reicher, die Armen ärmer, die Kranken litten noch mehr.
Dieses ganze Chaos bewirkte ein unmerkliches Rütteln auf unserem Planeten. Und plötzlich ein lauter Knall, eine Explosion. Aus einem schmalen Spalt auf der Spitze eines der höchsten Berge Chinas wurden winzige, giftige Teilchen herausgeschleudert. Zuerst wurden davon die Tiere krank. Aber das kümmerte die Menschen wenig. Jedoch bald bemerkten einige aufmerksame Bewohner dieses fernen Landes, dass da etwas Unheimliches geschah. Menschen erkrankten und starben an einer neuen Krankheit. Der mächtige Kaiser von China konnte aber nicht zulassen, dass die Welt davon erfuhr. Also ließ er die Gelehrten, die darüber sprachen kurzerhand hinrichten. Jedoch konnte auch der gottgleiche, höchste Herrscher dieses erhabenen Reiches die Ausbreitung der Krankheit dadurch nicht verhindern. Auch ging die Kunde über diese neue Seuche schnell um den Erdball.
Indessen wurden die kleinen Teilchen immer dreister. Bald hatten die Menschen einen Namen gefunden. SARS Covid 19 …Corona. Als ob man die Sache mit einem Namen schon beherrschen könne!
Den Teilchen gefiel der Name CORONA. Eine Krone! Sie schlossen sich zu immer größeren Einheiten zusammen. Wie ein überdimensionales Geflecht überzogen sie bald die ganze Erde. Und sie hatten so einen Spaß dabei! Kaum fiel einem von ihnen eine kleine Veränderung im Aussehen ein, machten es die anderen sofort nach. Sie hatten nur vereinbart, nicht alle Erdbewohner gleichzeitig und sofort zu töten, da ihr Spiel dann ohne Wirte ein abruptes Ende nehmen würde. Ein genialer Schachzug für ihr Tun war auch ihre Unsichtbarkeit. Menschen konnten damit nicht umgehen. Was sie nicht sahen konnten sie schwer bekämpfen. Manche von ihnen glaubten auch nicht an diese unsichtbare Gefahr.
Mutter Erde sah dem Treiben anfangs belustigt zu. Hatten doch die Menschen die Erde nicht gerade gut behandelt. Langsam bekam sie aber Mitleid mit den hilflosen Bewohnern ihrer Oberfläche. Sie schenkte ihnen eine Waffe. Diese war wirkungsvoll und so einfach zu bedienen, dass sie sicher wirken würde. Mutter Erde hatte aber wieder einmal die Menschen überschätzt. Die einen hatten so viel Angst vor der Waffe, dass sie lieber an der Seuche starben und andere hatten keine Möglichkeit an die Waffe zu kommen. Die Intelligenz, der Hausverstand und die Solidarität schienen sich im Dauer- Lockdown zu befinden.
Einige Zeit und viele Tote später wurde es dem großen unheimlichen Coronawesen langweilig. Es zog sich wieder in die Erdspalte zurück, von wo es hergekommen war. Vielleicht wartet es dort auf eine neue Gelegenheit um in veränderter Form wieder aufzutauchen.
Die Menschen beglückwünschten sich aber zu dem gelungen Sieg. (Welchen?) Ja, vielleicht hat sich ja doch das Leben auf der Erde ein ganz wenig beruhigt. Vielleicht haben Einige den Wert des Lebens überhaupt erst wahrgenommen. Vielleicht…
Anhang aus heutiger ethnologischer Sicht:
Aus Dankbarkeit nannte man in einem kleinen Land einen hübschen Ort „St. Corona am Wechsel“. Immer im Winter, die Jahreszeit als die Seuche ihren Höhepunkt erreicht hatte, kommen Alt und Jung zum Schifahren dorthin. Vermutlich ist das ein altes heidnisches Ritual zur Bekämpfung von Dämonen. In auffälliger Kleidung lassen sich die Menschen zuerst auf den Berg hinaufbringen um sich dann auf gefährlich schmalen Brettern ins Tal zu stürzten. Letzte Forschungen sehen einen Zusammenhang zwischen der Abfahrtsgeschwindigkeit und der Wirksamkeit des Schirituals. Es wurden nämlich in Österreich Aufzeichnungen gefunden, dass die schnellsten Schifahrer von den anderen Teilnehmer*innen des Rituals bejubelt und mit Geschenken überhäuft wurden.
Eine weitere Dankzeremonie ist aus Mexico überliefert. Dort gab es ein Getränk namens „Corona“, welches mit Zitrone serviert wurde. Der tiefere Sinn der Kombination mit der Zitrusfrucht konnte noch nicht restlos geklärt werden. Jedenfalls tranken vorwiegend Männer (wie es in den meisten patriarchalen Gemeinschaften üblich war) in zeremoniellen Zusammenkünften Unmengen von der berauschenden Droge. Möglicherweise opferten sich diese tapferen Männer für die Gemeinschaft und erlitten Symptome wie bei einer Infektion mit dem Virus. Aktuelle Untersuchungen und Selbstversuche der Forscher konnten noch nicht ausgewertet werden.
Herta Ditz, Flaurling
Das Virus
Eine Sage aus Sibirien
Eine Frau und ein Mann, beheimatet in einem europäischen Land, saßen in der Transsibirischen Eisenbahn. Sie waren schon mehrere Tage unterwegs, schliefen und aßen im Zug. Vor ihren Fenstern zog das sibirische Land vorbei, Europa und der Ural lagen hinter ihnen.
Ihr Waggon war mit nur einigen Reisenden schwach besetzt. Die langsam einkehrende Eintönigkeit nahm zu, und das Paar versuchte mit einer Dame in ein Gespräch zu kommen. Sie saß in nächster Nähe, hatte weißes Haar, einen asiatischen Gesichtsschnitt, aber helle Augen. Das Paar spürte, dass sie einem Gespräch nicht abgeneigt war, ja man einigte sich auf die französische Sprache, die diese drei Reisenden ausgezeichnet beherrschten. Das brachte alle einander näher.
Es ergab sich, dass die Pandemie ein Thema wurde. Diese Seuche hatte man nach langen Jahren endlich besiegt, wie das Paar stolz der Mitreisenden gegenüber erwähnte. „Darum vergönnen wir uns diese Fahrt, erfüllen uns einen Jugendwunsch“, sagten sie begeistert.
Die Dame hörte aufmerksam zu, ihre Empathie war spürbar und unauffällig zog sie das Gespräch an sich. Dabei verfiel sie in eine melodische Erzählstimme, die ihre Person schon nach ersten Worten faszinierend erscheinen ließ.
„Vor vielen Jahren“, so begann sie, „ich war noch ein Kind, erzählte mir meine Großmutter eine Sage, und zwar die Sage vom Corona Eisberg“.
Vor undenklichen Zeiten, als die Beringstraße noch keine Meeresstraße, sondern als festes Land die Erdteile Asien und Amerika verband, war dort ein Berg, der aussah wie eine Riesenkugel, übersät mit bizarren Auswüchsen, die Gifte in sich trugen.
In geologischer Vorzeit, in der die Jahre weniger als Sekunden zählten, trennten sich die Erdteile, und der Berg versank in Wasser und Eis.
Wenn dieses Gebilde, vereist, in mächtiger Größe aus den Fluten wieder emporsteigen sollte, wird eine unheilvolle Seuche ausbrechen, den Erdball umfassend. Die Kälte der Eismeere konserviert das Unheil, das dieser unheimliche Koloss in sich speichert.
In sibirischen Dörfern erzählte man in vergangenen Jahrhunderten von dieser Prophezeiung. „Dann geriet die Sage beinahe in Vergessenheit,“ so fuhr die Erzählerin fort.
……..bis vor einigen Jahren dieser Berg von Seeleuten angeblich gesichtet wurde. Er soll sich seinen Betrachtern, von deren Schiff aus, als unheimliche, im Eismeer schwimmende große, graue, zackige Riesenkugel gezeigt haben. Diese Erscheinung ging angeblich zeitgleich mit dem Auftreten der Seuche einher.
Die Erzählerin hielt inne und schwieg, wie auch die Zuhörenden.
Draußen war es Abend geworden, die Räder des fahrenden Zuges nahmen sich wie ein Schlussakkord der Sage aus, die irgendwo in den Weiten Sibiriens ihren Ursprung hatte.
Christine Essl, 10. Dezember 2021